Sonntag, 9. Oktober 2016

Tageskarte Nr. 929
(aus der Serie TAGESKARTEN)


























Freizeit!
Ich bin immer wieder verblüfft darüber wie viel Zeit man hat wenn man Zeit hat. Es ist auf jeden Fall fragwürdig wie Zeit einfach so frei wird wenn sie vorher nicht frei war. Ein anderer würde sich über eine verblüffend frei gewordene Zeit möglicherweise freuen. Ich freue mich nicht. Freude wäre eine zu leidenschaftliche Reaktion auf fragwürdig frei gewordene Zeit und leidenschaftliche Reaktionen bedeuten nicht nur unnötigen Kraftaufwand sondern sie sind obendrein zeitaufwendiger als eine Verblüffung. Verblüffung gleicht einem kurzen Taubwerden oder leichten Erschrecken wohingegen man sich für Freude erst mal in Schwung bringen muss um in die Freude hineinzugelangen. Dieses Schwungholen kostet Zeit und Energie genauso viel Zeit und Energie wie es im Anschluss daran kostet in dem gewonnenen Schwung der Freude zu bleiben denn etwas verweilen muss man schon dort und sich ein bisschen räkeln in dieser Freude denn sonst hätte sich der Kraftaufwand den man betreiben musste um in die Freude zu gelangen ja gar nicht gelohnt (wann freut man sich schon mal). Anschließend müsste ich mich wenn ich mich freute statt verblüfft zu sein über die fragwürdig frei gewordene Zeit von der Freude wieder runter schwingen in einen wohl temperierten Modus damit ich überhaupt fähig wäre über die fragwürdig frei gewordene Zeit mit Bedacht zu verfügen. Dieses Runter-Schwingen verbrauchte wiederum Zeit von der zwar fragwürdigen aber doch zur Verfügung stehenden Zeit und dann könnte es sein dass die frei gewordene Zeit die ich hätte nutzen können wenn ich nur verblüfft darüber gewesen wäre statt mich zu freuen dass diese Zeit durch die völlig unangebrachte Freude über sie schon wieder abgelaufen wäre ohne dass ich überhaupt eine einzige zwar fragwürdige aber doch kostbare Minute davon gekostet hätte. Und ich befände mich wieder in der allgemeinen Zeit der Zeit die ich sowieso leben muss und die ohnehin abläuft da kann ich mich noch so dagegen aufbäumen dass sie nicht aufzuhalten ist keine Chance. Die allgemeine Zeit ist die Zeit die nie frei ist also immer besetzt ist die genau genommen quasi nicht vorhanden ist und die obendrein nicht nur nicht mir allein gehört sondern allen gehört das heißt es ist die Zeit ALLER die ich mir auch noch mit allen TEILEN muss obwohl sie doch genau genommen nicht vorhanden ist also keine Zeit ist also nichts ist.
Verblüfft im Sinne von „erstaunt“ bin ich darüber dass ich mir die überraschend mir allein zur Verfügung stehende Zeit weder vorher freischaufeln ausbitten erbetteln erkämpfen aus den Rippen schneiden oder ähnliches musste sondern dass sie mir einfach so zufiel. Denn muss ich mir freie Zeit erst freischaufeln erbitten erbetteln und so weiter bedeutet dies ähnlich wie für einen Ausbruch der Freude über fragwürdig frei gewordene Zeit dass ich so viel Kraft aufwenden muss um zu ihr zu gelangen dass ich mich sobald ich sie erreicht habe aus lauter Erschöpfung zunächst nur schleppend fortbewegen kann möglicherweise falle und ganz liegen bleibe und meine eigene freie Zeit im schlimmsten Fall verschlafe! Verblüfft im Sinne von „leicht erschreckt“ bin ich darüber dass die überraschende Zeit sich vor mir ausbreitet wie eine einladende und doch auch zu befürchtende weite Ebene die ich betreten muss und zwar allein. Was von den Hunderten von Dingen die ich für freie Zeit vorgesehen habe wenn ich keine freie Zeit habe soll ich nun als erstes und wie soll ich und soll ich jetzt gleich aber wo ist überhaupt meine Liste. Mehr noch als die Ebene meiner freien Zeit endlich zu betreten gruselt mich die Frage nach der Fragwürdigkeit dieser mir zur Verfügung stehenden Zeit. Woher kam sie und wie kam sie und warum gerade jetzt wo ich schon nicht mehr mit ihr gerechnet hatte sondern meine Zeit damit verbringe wie alle anderen die größten Häppchen der allgemeinen Zeit zu erhaschen und möglichst schnell zu verzehren um noch im Schlucken und bevor jeglicher Prozess von Verdauung stattgefunden hätte schon nach den nächsten Zeit-Häppchen Ausschau zu halten. 
Fiel sie mir zu und woher? Gibt es doch irgendwo ein noch unentdecktes Reservoire ungenutzter Zeit und wer teilt sie zu? Habe ich etwas falsch gemacht im Umgang mit Zeit oder etwas richtig gemacht bin ich eine AUSERWÄHLTE eine GEWINNERIN etwa? Wie auch immer ich muss jetzt meine Liste finden mit den Dingen für die Zeit die ich habe wenn ich sie habe also jetzt. Und da ist schon meine Liste und an oberster Stelle steht unter Punkt 1: ich muss die Zeit die ich habe wenn ich sie habe mit Denken verbringen. Ich muss das Denken am Leben erhalten bevor es ausstirbt bevor jeder nur noch denkt was ein anderer schon gedacht hat also ein Denken aus zweiter Hand denkt also das Denken nur konsumiert. Man muss das bedrohte selbständige Denken vor dem Aussterben bewahren und welche Zeit wäre dafür geeigneter als die zwar fragwürdig zugeteilte aber immerhin freie Zeit die uns geschenkt wird um selbständig darin zu denken. Und zwar denken über egal was einfach denken. 
Zum Beispiel hängt vor mir seit ich fragwürdig aber immerhin frei denken kann diese Glühbirne. Und weil ich meine Liste abarbeiten und am einfachsten mit Punkt 1 beginnen möchte ist es am gescheitesten über die Glühbirne nachzudenken und zwar 1. warum sie dort hängt 2. hing sie schon immer dort 3. warum hängt sie so unmotiviert tief 4. warum leuchtet sie (es ist heller Tag!) 5. wer hat sie angeschaltet 6. war ich das und wenn ja 7. wo ist eigentlich der Schalter 8. warum hängt die Glühbirne nackt also ohne Lampenschirm 9. war ich zu faul einen anzubringen oder 10. habe ich keinen Ehemann der es für mich tun würde 11. bin ich zu arm einen Lampenschirm zu kaufen 12. liegt nicht noch einer im Keller 13. was habe ICH eigentlich mit dieser Glühbirne zu tun 14. ist das hier überhaupt mein Raum 15. was TUE ich hier 16. wer BIN ich...